Die Starken mehr fördern als die Schwachen

Interview im Bund vom 19.11.2012

Die Übermacht des Landes habe für Bern ab 1920 eine tragische Abwärtsspirale zur Folge gehabt. Alt-SP-Nationalrat Rudolf Strahm rät, nicht nur die starken Regionen zu benennen, sondern auch die schwachen.

Herr Strahm, der Kanton Bern bezieht über eine Milliarde Franken aus dem Finanzausgleich. In den Geberkantonen heisst es, die Solidarität sei überstrapaziert. Müssen wir uns als Berner schämen?
Rudolf Strahm:Ich finde die Diskussion um diese Milliarde etwas schief und peinlich. Der Finanzausgleich ist ja genau dazu da, die Strukturschwächen auszugleichen. Der Kanton Bern ist einfach unter den Schwächeren der Grösste, darum ist die Summe grösser. Wenn pro Kopf gerechnet wird, sieht es etwas anders aus. Es ist ein bisschen ein Bern-Bashing, ausgehend von neokonservativen und neoliberalen Kreisen.

Es heisst, Bern müsse sich mehr anstrengen und sparsamer sein.
Die Berner arbeiten mindestens so viel wie die Leute in Schwyz, Zug und Zürich. Aber wir haben historisch bedingte Strukturschwächen. Die müssen wir offen benennen und angehen.

Teilen Sie die Ansicht, dass der Kanton Bern sein wirtschaftliches Potenzial nicht ausgeschöpft hat.
Ja und nein. Wenn man die Räume Thun-Bern, Biel-Jurafuss isoliert betrachtet, haben wir sehr strukturstarke Regionen mit höheren Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts als im schweizerischen Durchschnitt. Aber der Kanton Bern hat weite strukturschwache Regionen, die auf den Durchschnitt drücken.

Wie gross sind diese Unterschiede?
Vergleicht man die Arbeitsproduktivität der Branchen, also die volkswirtschaftliche Wertschöpfung pro Beschäftigten, wird das Problem rasch erkennbar. Der Durchschnitt aller Branchen liegt bei 123’000 Franken. Die Landwirtschaft mit 44’000 Franken, das Tourismus-Gastgewerbe mit 59’000 Franken oder das Baugewerbe mit 100’000 Franken liegen darunter, während die Chemieindustrie mit 322’000 Franken darüber hinausragt.

Trotzdem, im Kanton Bern scheint nicht alles rund gelaufen zu sein.
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem grossen Bruch. Vorher war Bern ebenso dynamisch wie Zürich. Aber mit der Gründung und dem erdrutschartigen Wahlsieg der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), einer Abspaltung des Freisinns, wurde ab 1920 plötzlich das konservative Land dominant, was Verhinderungspolitik und eine tragische Abwärtsspirale zur Folge hatte.

Was wurde verhindert?
Umfangreichere Eingemeindungen der Stadt Bern etwa. Oder grosse, zusammenhängende Industriezonen. Oder ein Flughafen in Utzenstorf. Und sogar der Zuzug von Industrieunternehmen. Der BGB-Landmaschinenfabrikant Aebi aus Burgdorf hat in den 1950er-Jahren verhindert, dass in der Nähe eine Ford-Traktorenfabrik errichtet wurde. Dabei steht fest: Wo Industrie vorhanden ist, wird weitere Industrie angezogen.

Dann stimmt die Kritik, wie sie im Buch «Wie viel Bern braucht die Schweiz?» formuliert wird: dass rechtsbürgerliche Politiker, die der Regierung heute mangelnde Dynamik vorwerfen, daran denken sollten, dass ihre Vorgänger den Fortschritt am meisten gehemmt haben?
Ich würde diese Kritik teilen. Aber es ist nicht nur eine Links-rechts-Frage. Auch die Sozialdemokratie in den ländlichen Regionen hat kräftig mitgeholfen, schwache Strukturen zu erhalten. Je stärker eine Region unter Druck gerät, desto bedeutender werden überparteiliche Koalitionen, die ihre Region verteidigen. Tragisch ist, dass der Freisinn so schwach wurde, dass er nicht mehr als Modernisierungskraft in Erscheinung treten konnte wie in Zürich, Basel oder Genf. Er wurde sozusagen zum Seitenwagen der BGB, später der SVP.

Geschehen die gleichen Fehler heute immer noch?
Die 26 Amtsbezirke sind durch Verwaltungskreise abgelöst worden. Sonst sehe ich wenig. Auch heute noch ist es im Grossen Rat so, dass die Vertreter der strukturschwachen Regionen – ich nenne es einmal das Amstutz-Hinterland – ein Übergewicht haben.

Wie kann der Kanton Bern denn auf einen Wachstumspfad einbiegen?
Was ich jetzt sage, ist vielleicht nicht gerade sozialdemokratisch und klingt etwas brutal. Der Kanton Bern müsste in seiner Wirtschaftspolitik die Starken mehr fördern als die Schwachen. Er müsste zum Beispiel die strukturstarken Regionen fördern, und da die innovativen Branchen wie Medizinal-, Präzisionsinstrumente oder Biotechnik – statt Landwirtschaft und Tourismus. Bei dieser Schwerpunktbildung sind auch Universität und Fachhochschulen stärker in diese Strategie einzubinden.

Sind diese zu autonom?
Ja. Sie haben viel zu wenig Verständnis dafür, dass sie eigentlich in eine Wirtschaftsregion eingebunden werden sollten.

Wären somit mehr Ingenieure und weniger Ethnologen auszubilden?
Zum Beispiel. Die Fachhochschule Bern hat 340 Informatikstudenten – aber 448 Musik- und Theaterstudenten und 606 Sozialarbeiterstudenten. Diese Zahlen könnte man steuern. Die viel beschworene Hochschulautonomie hat eine gewisse Beliebigkeit und Zufälligkeit in der Schwerpunktbildung zur Folge.

Was sie bisher sagten, tönt aber noch nicht sehr brutal.
Es muss aber eine zweite Schiene verfolgt werden, die politisch sehr heikel ist. Als Veteran kann ich mir jedoch Aussagen dazu erlauben. Nebst den wirtschaftlich starken Räumen müsste man auch jene identifizieren, die über wenig Potenzial verfügen. Graubünden hatte dazu den Mut. Auch Uri. Und dann müsste man die Konsequenzen ziehen.

Was heisst das im Klartext?
Das heisst, dass der Staat nicht mehr in jedem Tälchen die volle Infrastruktur bezahlt, sondern eine gewisse Entleerung der potenzialschwachen Räume in Kauf nimmt.

Entleerung, das klingt hart.
Natürlich. Es würde sich jedoch automatisch ergeben. Der Kanton kann sich aber diese Subventionitis bis in den hintersten Winkel hinein nicht mehr leisten. Die Leute, die in diesen Regionen leben, arbeiten hart; ich weiss das, weil ich selber Oberemmentaler bin. Ihre Wirtschaftsschwäche beruht auf strukturellen Problemen, ich möchte da nicht eine Moralfrage daraus machen.

Wie schafft man es, dass solche Forderungen verstanden werden?
Es brauchte mutige Figuren, die nicht mehr wiedergewählt werden müssen. Es brauchte einen mutigen Volkswirtschaftsdirektor, der solche Tatsachen ausspricht und halt den Aufschrei der ländlichen Grossräte – auch aus den eigenen Reihen – in Kauf nimmt.

Müssen wir immer wachsen und mithalten, Cluster bilden und erstarken? Gibt es keine Alternative?
Ich möchte unsere Lebensqualität durchaus erhalten, ebenso die tiefe Arbeitslosigkeit und die hohen Lehrlingsquoten im Kanton Bern. Aber wenn wir nichts tun, wird sich Berns Rückstand auf die Räume Zürich-Zug-Aargau, Basel-Elsass, Genferseegebiet und vielleicht auch Tessin-Lombardei stetig vergrössern. Dann wird die Frage drängender, ob die heute noch vorhandene Wirtschaftssubstanz überhaupt noch in der Agglomeration Bern bleibt oder plötzlich auch sie aufgesogen wird von diesen aufstrebenden Metropolitanräumen.

Und das wäre dann ein Problem?
Die regionalen Einkommensdisparitäten würden noch grösser, die Strukturschwäche Berns würde sich akzentuieren. Die Frage ist, ob das politisch erträglich bliebe, denn die Metropolitanräume stehen unter einem anderen Druck, dem der Globalisierung.

Sie stehen also in Konkurrenz mit Standorten wie Singapur.
Oder Dublin, Budapest und so weiter. Und dann wollen die Metropolitanregionen plötzlich weniger Finanzausgleich zahlen. So wie man das jetzt in der EU beobachten kann, wo die Deutschen nicht mehr für die Griechen zahlen wollen. Das Bern-Bashing aus Zürich, Zug und Basel ist ganz klar vor diesem Hintergrund zu betrachten. Viele Berner Politiker haben das noch nicht erkannt.

Ist es ein gutes Rezept, die Steuern zu senken, wie das vor allem bürgerliche Politiker und die Wirtschaftsverbände fordern?
Ich glaube, sie haben nicht unrecht, aber es braucht eine gesamtschweizerische Optik. Der Kanton Bern muss bei der Firmenbesteuerung aus Standortgründen ebenfalls über die Bücher gehen. Das Problem sind nicht Holzbaubetriebe im Emmental. Die gehen nicht nach Zürich. Aber eine Energiefirma, die beweglich ist, stellt diesbezüglich viel eher Überlegungen an. Meine Forderung ist aber, dass der Steuerwettbewerb unter den Kantonen kompensiert wird, indem der Bund seine Unternehmensbesteuerung landesweit massiv erhöht und dann vertikal für einen Finanzausgleich zwischen den Kantonen sorgt – und zum Beispiel landesweit bei den Hochschulen, Fachhochschulen und bei den Institutionen der höheren Berufsbildung mehr bezahlt, die ja sowieso mehr oder weniger überkantonal aufgestellt sind. Wenn dieser interkantonale Steuersenkungswettbewerb ungezügelt weitergeht, steht der Kanton Bern in zehn Jahren am Abgrund.

>>Zum Artikel im Bund

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