Die Politik verschliesst die Augen vor Preis- und Lieferbindungen

Tages-Anzeiger – Dienstag, 19. Juli 2011

Die Kaufkraft des Frankens steigt und steigt. Doch die Importpreise bewegen sich nicht. Die wirtschaftliche Wirklichkeit hält sich nicht an die ökonomischen Lehrbücher. Innert anderthalb Jahren hat der Franken gegenüber dem Euro und dem Dollar rund ein Fünftel an Wert gewonnen. Importgüter aus dem Euro- und dem Dollarraum müssten bei uns 20% billiger geworden sein. Doch die Preise haben sich kaum bewegt, ja, der Index der Importpreise ist sogar um 2% gestiegen.

Wo versickern die Währungsgewinne? Wenn der Frankenpreis importierter Produkte trotz stärkerem Franken nicht sinkt, heisst das meistens: Ausländische Lieferanten passen ihre Preise nicht der Währungsentwicklung an. So streichen sie für ihre Waren bei gleichen Frankenpreisen ein Fünftel mehr Dollars oder Euros als vor eineinhalb Jahren ein. Mit anderen Worten: Preisdiskriminierung gegen die Schweiz ermöglicht es ihnen, dicke Währungsgewinne abzuschöpfen. Nivea-Produkte zum Beispiel sind in der Schweiz doppelt so teuer wie in Deutschland. Den Gewinn schöpft der Beiersdorf-Konzern ab, indem er seine Nivea-Produkte nur über seine Schweizer Filiale an Migros, Coop und Denner vertreibt. Ein Direkteinkauf der Produkte im Ausland wird dem Detailhandel praktisch verunmöglicht.

Ein anderes Beispiel: Ein VW Golf darf nur über den Generalimporteur Amag Schweiz an den Fachhändler gelangen – für 6800 Franken mehr, als das Modell in Deutschland kostet. Ein Opel Corsa wird 4500 Franken teurer verkauft. Und die Autoersatzteile sind bei uns doppelt so teuer. Garagisten, die direkt importieren wollen, werden von den Konzernen abgewimmelt: «Wenden Sie sich an den offiziellen Generalimporteur in der Schweiz.»

Hochgerechnet auf rund 150 Milliarden Franken Importvolumen – Erdöl und Nahrungsmittel nicht eingerechnet –, bezahlen wir in der Schweiz derzeit 20 bis 25 Milliarden Franken mehr als die Konsumenten im benachbarten Ausland für identische Produkte (Vertriebskosten im Landesinnern nicht mitgerechnet). Das ist ein «Geschenk» ans Ausland – und ein enormer Kaufkraftverlust für die Schweizer Konsumenten und kleinen und mittleren Unternehmen.

Wer an der Grenze wohnt, kann sich leicht im Ausland eindecken. Das Volumen des Einkaufstourismus wird im laufenden Jahr drei Milliarden Franken übersteigen. Die Aussage von Wirtschaftsminister Johann Schneider- Ammann, er verstehe die Schweizer, die im Ausland einkaufen, ist gut gemeint, aber eine Hilflosigkeitserklärung.

Wirtschaftsjournalisten schreiben jetzt zwar endlich über die versickernden Währungsgewinne. Aber das Warum und Wo bleibt meist im Dunkeln. Zum Kern der Hochpreisproblematik stösst nur vor, wer die Handelskanäle und die reellen Praktiken im Beschaffungshandel kennt. Meiner Einschätzung und Kenntnis zufolge sind die hohen Importpreise zu vier Fünfteln auf vertikale Lieferbindungen über die Grenzen hinweg zurückzuführen. Diese haben viele Facetten: Ausländische Konzerne beliefern den Schweizer Detailhandel nur über einen Alleinimporteur oder die eigene Vertriebsfiliale. Auch sind sie erfinderisch, was die Tricks anbelangt, um Direktbezüge und Parallelbeschaffungen im Ausland zu verhindern. Markenartikel sind am stärksten betroffen, von Nivea bis Elmex, von Hugo Boss bis BMW, von Marktneuheiten bis zu Ersatzteillieferungen.

Das geächtete horizontale Kartell – also Preisabsprachen auf der gleichen Handelsstufe – ist fast tot. Doch in der heutigen Konzernwelt sind Vertikalkartelle mit Preis- und Lieferbindungen, Exklusivlieferverträgen, Markenbindungen, Alleinimporteuren nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Diese Preisdiskriminierung durch multinationale Konzerne ist auch ein Resultat davon, dass die eidgenössische Wettbewerbskommission (Weko) kaum gegen solche Vertikalkartelle durchgreift. (Der Schreibende weiss, wovon er spricht, er sass vier Jahre von Amtes wegen in diesem Gremium.) Gemäss Kartellgesetz wären solche vertikale Lieferbindungen seit 2004 mit Bussen zu bekämpfen. Doch die Weko hat sich in Handelskreisen nie den nötigen Respekt verschafft: In sieben Jahren gab es nur gerade zwei Sanktionen, nämlich bei Gartenscheren und Elmex-Produkten, von einem Arzneimittel-Sonderfall abgesehen. Dabei gäbe es Dutzende von Meldungen und Hunderte von manifesten Preishochhaltepraktiken vor der Tür.

Jetzt führt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) eine Erhebung durch. Sein schriftlicher Fragebogen zu 150 Importprodukten wird kaum viel Erhellendes zutage fördern. Ein Händler hat mir erklärt, wenn ihm die Weko einen Fragebogen ins Haus schicke, konsultiere er jeweils seinen Rechtsanwalt, und der sage ihm dann schon, wie er seine ausweichende Antwort drechseln müsse. Und die praxisfernen Schreibtischleute im Seco und der Weko nehmen diese dann für bare Münze. Dabei müsste die Weko nur Einsicht in die reellen Fakturen der Händler verlangen, die Lieferpreise vergleichen und Sanktionsverfahren einleiten. Rechtlich könnte auch das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement eine Untersuchung beantragen – hat dies aber noch nie getan. Die Augen-zu-Politik hat System. Denn der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und einige Konzerne lobbyieren gegen die Vertikalregelung im Kartellgesetz (Artikel 5.4). Um solche Absprachen entgegen dem Willen des Gesetzgebers zu rechtfertigen, führt das Weko-Sekretariat die Ausrede an, es gebe ja noch andere, gleichartige Artikel, was einen «Interbrand-Wettbewerb » sicherstelle. In Wahrheit können die Detailhändler auf starke Marken wie Nivea, Elmex und Gillette in ihrem Sortiment gar nicht verzichten. Die zweite Ausrede kommt von Konzernvertretern und Seco-Ökonomen unter dem schwülstigen Titel «New Economic Approach»: Diese interessengebundene Doktrin aus den USA behauptet, Exklusivlieferkanäle von Grossfirmen seien ökonomisch «effizient».

Die derzeitige selbst verschuldete Hochpreiskrise sollte allen die Augen geöffnet haben, dass Handlungsbedarf besteht. Es braucht bei der bevorstehenden Revision des Kartellgesetzes nicht eine Lockerung, sondern eine Verschärfung, was die vertikalen Bindungen anbelangt. Es braucht härtere Sanktionen, klarer definierte und kürzere Verfahren und eine professionell zusammengesetzte Wettbewerbsbehörde, die sich Respekt in der Wirtschaft zu verschaffen weiss. Der Chef des Volkswirtschaftsdepartements hat es in der Hand.

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