Die europäische Tragödie

Artikel von Rudolf Strahm,  für Weltwoche,  13‘000 Zeichen , bis 11. Juli 2016.

Die europäische Tragödie

Von Rudolf Strahm, Artikel in „Weltwoche“ Nr. 28 vom 14. 7  2016.

LEAD: Die Jugendarbeitslosigkeit in der EU hat längst niederschmetternde Höhen erreicht. Der Grund: Viele EU-Staaten stecken in der Akademisierungsfalle. Die Schweiz macht es besser.

Welch‘ ein Drama in Europa! Über fünf Millionen Jugendliche unter 25 Jahren sind im EU-Raum als Arbeitslose registriert. Fast ein Viertel der Jugendlichen, die nicht gerade in der Ausbildung stecken, sind arbeitslos. Das ist ein Versagen der Wirtschafts- und Bildungspolitik von historischem Ausmass. Es gibt keine grössere Demütigung eines jungen Menschen, als das Gefühl, er werde nicht gebraucht. Protestbewegungen von Jugendlichen in Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland sind zu allererst auf deren berufliche, arbeitsmarktliche Perspektivlosigkeit zurück zu führen.

Bildungsdünkel

Da werden unterschiedliche Ursachen für dieses wirtschaftliche und soziale Debakel vorgeschoben: etwa die Schwächen des Unternehmertums, die Konkurrenz der globalen Wirtschaft oder die Starrheit der Arbeitsmarktregulierung. Das mag alles eine Rolle spielen. Aber matchentscheidend ist das Bildungssystem, ist dessen fehlende Arbeitsmarktbefähigung. Die Bildungseliten Europas und der internationalen Organisationen verschweigen und verdrängen die entscheidenden Unterschiede der Bildungssysteme. Es geht in Europa um die fehlende Employability, also die mangelnde Arbeitsmarktbefähigung der Bildungssysteme. Die Korrelation zwischen Bildungssystem und Jugendarbeitslosigkeit zeigt klar die Gründe für die Diskrepanzen in der Arbeitslosigkeit.

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Grafik aus: Rudolf H. Strahm: Die Akademisierungsfalle. Warum nicht alle an die Uni müssen. hep-Bildungsverlag. 240 Seiten, mit 77 Grafiken. 2014. Fr. 34.-

 

Europa, vor allem Südeuropa und Frankreich, stecken in der Akademisierungsfalle. Die EU-Länder, die eine formale, duale Berufsbildung kennen, haben Jugendarbeitslosenquoten von 10 % oder weniger. Dazu gehören die Schweiz, Deutschland, Oesterreich, Liechtenstein, aber auch – etwas weniger ausgeprägt – Holland und Dänemark. Duale Berufsbildung bedeutet: eine Kombination von betrieblicher Berufslehre und staatlicher Berufsfachschule.

Die lateinischen Länder kennen keine formale, betriebliche Berufslehre. Ihre Jugendarbeitslosenquoten sind zwei oder drei  Mal höher. Sie beträgt 25% in Frankreich, 40% in Italien, 48% in Spanien, 32% in Portugal und sogar 49% in Griechenland. Selbst Schweden, ein hoch kompetitives Land mit einem guten technischen Bildungssystem aber ohne duale Berufsbildung, liegt bei 20 % , Finnland sogar bei 22%. Entsprechend ist in diesen Staaten auch die Arbeitslosigkeit bei den Erwachsenen höher. Entscheidend für die Arbeitslosenquoten sind nicht die Wirtschaftswachstumsraten, sondern die Praxisnähe und Berufsintegrationsfähigkeit der Ausbildung. Die Berufslehre hat den Vorteil, dass sie auch die praktische Intelligenz der Menschen nutzt und qualifiziert.

Demgegenüber sind die Maturitätsquoten in Südeuropa und Frankreich bedeutend höher als in der Schweiz und in den Berufsbildungsländern. In Frankreich absolvieren rund 55% der Jugendlichen ein Baccalauréat, in Italien besuchen 75% das Liceo mit einem maturitätsähnlichen Abschluss. Universitätsabsolventen arbeiten danach als Taxifahrer, Hotelrezeptionisten oder Kellner. In der Schweiz liegt die Quote der gymnasialen Maturität bei 20% plus jene der Berufsmaturität (die verbunden ist mit einer Berufslehre) bei 13%.

Frankreich und Italien haben relativ mehr universitäre Ingenieure und Naturwissenschaftler als die Schweiz. Und dennoch sind sie immer weniger konkurrenzfähig! Beide Länder erleben einen dramatischen Niedergang ihrer Industrien. Frankreich, die ehemals stolze und starke Industrienation, hat heute nur noch 11 Prozent der Beschäftigten im Industriesektor. In der Schweiz und in Deutschland ist der Anteil doppelt so hoch.

Die französische Bildungselite, ausgebildet an einigen wenigen Renommieruniversitäten,  pflegt ihren Bildungsdünkel und erweist sich zunehmend als unfähig, die internationale Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zu erhalten. Die berufspraktischen Tätigkeiten haben ein soziales Stigma. Berufsbildung , „la formation professionelle“, gilt in Frankreich als ein Abschiebeprogramm „pour les plus défavorisés“, also für die ganz schwachen, arbeitslosen Jugendlichen in den Banlieus.

In der deutschen Schweiz dagegen beginnen heute noch rund 65% aller Jugendlichen ihre Karriere mit einer Berufslehre; ein Drittel bis zur Hälfte von ihnen besuchen dann anschliessend weitere Bildungsstufen wie Fachhochschulen, Höhere Berufsbildungsstufen und ständige Umschulungen auf neue Technologien. Die ländliche Wirtschaftselite bei uns beginnt ihren Werdegang mit der Berufsbildung und deshalb hält sie eine hohe Wertschätzung der Berufslehre aufrecht und investiert ihrerseits viel in die Ausbildung von Lernenden im Betrieb.

Wo sind die ausgebildeten Fachkräfte?

Wer in der betrieblich-industriellen Praxis steht, braucht keine langen Erklärungen für die Akademisierungsfalle der südeuropäischen Wirtschaft: Es braucht zwar gute Ingenieure, Forscher, Entwickler. Aber die High-Tech-Industrie benötigt ebenso praxisorientierte Fachkräfte, die rasch mit neuen Technologien umgehen können und die Innovationen in die Praxis umzusetzen wissen. Neue Netztechniken, neue Materialtechnologien, Automaten, Roboter und Industrie 4.0 benötigen neben der spezialisierten Entwicklung eben auch Präzisionsarbeit, Exaktheit, Anwendungskompetenz für die rasche betriebliche Innovation im industriellen Wertschöpfungsprozess. Wo die Skilled Workforce fehlt, also die  technisch ausgebildeten und anwendungsorientierte Fachkräfte fehlen, ist auch die kommerzielle Höherentwicklung und Nutzung von High-Tech behindert.

Die höhere Produktivität und Kompetitivität zeigt sich nicht nur in der Industrie. Auch im Dienstleistungssektor, etwa im Gesundheitswesen, in Spitälern und Heimen, in den Verkehrs- , Logistik- und Handelsbranchen zählen Präzisionsarbeit, Raschheit, Zuverlässigkeit und natürlich ständig verbesserte Arbeitsprozesse. Im Rating der „Process Sophistication“, also bei den effizienten Verfahren, steht die Schweiz stets in der Spitzengruppe.

Konzeptionell hat die lange propagierte Theorie von der Wissensgesellschaft den Europäern einen Streich gespielt. Die Theorie vom unaufhaltsamen Trend in die Wissensgesellschaft („Knowledge based society“) von Daniel Bell hat die Europäer, aber auch die angelsächsischen Länder,  beflügelt, immer mehr akademische Berufe zu fördern. Man vernachlässigte die Skills Development, die berufspraktische Investition in die High-Tech-Praxis.

Verpasste Innovation

Südeuropa blieb auf den traditionellen, ausgereiften Industrien sitzen. Noch vor zwei Jahrzehnten waren Italien, Spanien, Portugal die Hauptlieferanten von Textilien, Bekleidung, Schuhen, Haushaltgeräten, teilweise auch Hauselektronik für ganz Europa. Ostasien hat dieser Industrie den Rang abgelaufen. Es waren zuerst Taiwan, Südkorea, Philippinnen und Hongkong, danach kam China als Exportgigant , jetzt kommen auch Vietnam und Bangladesh hinzu. Sie haben die Massenkonsumgüterindustrie Europas verdrängt. Auf die Frage nach Europas Wirtschaftsschwäche müsste man sagen: „It’s China, stupid!“.

Wenn wir allein die Exporte der Volksrepublik Chinas von verarbeiteten Industrieprodukten nach Europa in Beschäftigungsvolumen umrechnen, dann hat China seit Ende der 1990er Jahre mindestens 26 Millionen Arbeitsplätze in Europa verdrängt. Wenn man die tieferen Arbeitskosten und die Produktivität Chinas zugrundelegt, umfasst der Verdrängungseffekt sogar 40 Millionen Arbeitsplätze.

Die Industrien der nördlichen Länder, etwa Deutschlands, Oesterreichs, Dänemarks, Schwedens – ganz besonders auch die Schweizer Industrie – sind dank praxisorientierter Ausbildung und hoher Anpassungsfähigkeit auf höherschwellige Produktionsbereiche ausgewichen. Sie produzieren nicht mehr Textilien, sondern Textilmaschinen und Tricotautomaten, sie produzieren elektronische High-Tech-Einrichtungen, Messgeräte, Medizinaltechnologien. Die traditionellen Industrienationen Südeuropas, aber auch Grossbritanniens, folgten dem Trend der Desindustrialisierung.

Die Medaille der technologischen Innovation hat eben zwei Seiten: Die eine Seite ist die Forschung und Entwicklung und dazu braucht es Fachhochschulen und Hochschulen, die andere Seite aber ist die rasche, praxisorientierte Umsetzung der Innovationen im industriellen Prozess und dabei ist die Berufsbildung entscheidend. Die Eliten Südeuropas und der lateinischen Länder haben in ihrem Bildungsdünkel diese Doppelseitigkeit der ökonomischen Medaille vernachlässigt.  Wirtschaftspolitik ist eben auch Bildungspolitik. Und Bildungspolitik ist Wirtschaftspolitik.

Euro-Zone auf einer Reise ins Ungewisse

Die abnehmende internationale Konkurrenzfähigkeit der südeuropäischen und französischen Wirtschaft und deren Desindustrialisierung zeigt makroökonomische Folgen. Diese industriell schwächelnden Volkswirtschaften produzieren wachsende Handelsbilanzdefizite. Diese werden durch die gemeinsame Euro-Währung teilweise überdeckt. Die Eurozone leidet unter der „Target-Falle“. Das heisst, die südeuropäischen Defizite werden durch den monetären Ausgleichsmechanismus innerhalb der Eurozone aufgefangen.

Eigentlich müssten die schwächelnden Staaten Südeuropas und Frankreich ihre Währung jetzt abwerten können, um die Produktivitätsdefizite aufzufangen, doch das können sie in der Eurozone nicht. Wie dieser schleichende Prozess wachsender innereuropäischer Disparitäten weiter geht und wie er aufzufangen wäre, hat kaum jemand beantwortet. Der Ruf, die Südeuropäer müssten halt ihre Arbeitsmärkte deregulieren, ist eine hilflose Ersatzrhetorik.

Die systemischen Zusammenhänge nach dem Wirkungsschema: Schlechtes Bildungssystem, tiefe Produktivität, mangelnde internationaler Konkurrenzfähigkeit und in der Folge wachsende Disparitäten zwischen den europäischen Nationen sind viel zu wenig bewusst. Ökonomen ignorieren oft die Bedeutung der Berufsbildung und der damit zusammenhängenden tiefen Arbeitsproduktivitäten. Was man in der Wirtschaftswissenschaft nicht kennt, das misst man nicht. Und was man nicht messen und in die ökonometrischen Modelle einbauen kann, existiert nicht. Auch dieses Wissensdefizit gehört zum Drama der europäischen Wirtschaft.

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