Der teure Schweizer Agrarmythos

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 27.02.2017

Beim Parlament liegt eine Volksinitiative, die dereinst in der Volksabstimmung unser Land zutiefst spalten wird. Die Rede ist von der Hornkuhinitiative. Es geht um die Frage, ob Schweizer Kühe, Zuchtstiere, Ziegen und Zuchtziegenböcke die Behornung behalten und ihre Halter dafür eine Zusatzsubvention beziehen können. Oder ob die Hörner im frühen Kalbsalter brutal abgebrannt werden. Ein echt helvetischer Kompromiss – nämlich nur ein Horn stehen zu lassen – ist wohl biologisch nicht sinnvoll.

Jedermann in der Schweiz hat eine tief emotionale Beziehung zu Kuhhörnern. Darum wird diese gemütsbewegende Volksinitiative Familien, Verbände, Parteien und das Parlament spalten. Das verhasste Brüssel wird uns diesmal nicht dreinreden. Aber die Weltpresse wird erneut neidvoll berichten, worüber das Volk in der Schweiz alles souverän bestimmen kann.

Derzeit sind sage und schreibe vier Volks­initiativen zur Landwirtschaft politisch unterwegs. Abgesehen von jenem Volksbegehren zum Schutz der Kuh- und Geissenhörner fordert der Schweizerische Bauernverband SBV mit seiner Volksinitiative «für Ernährungssicherheit» die Lebensmittelversorgung aus noch mehr gesteigerter einheimischer Produktion und den Schutz von Landwirtschaftsland. Diese Initiative wird in der März-Session im Parlament bereinigt.

Weiter will die Grüne Partei mit ihrer Fair-Food-Initiative restriktivere Vorschriften für importierte Nahrungsmittel und einen noch stärkeren Protektionismus der inländischen Nahrungsproduktion.

Und zuletzt will die Ernährungssouveränitätsinitiative der radikalen Westschweizer Bauern­gewerkschaft Uniterre die lokale, bäuerliche Nahrungsmittelproduktion gegen Importprodukte abschotten.

Kommunistische Schlagworte

Alle diese Volksbegehren basieren auf jenem Nationalmythos, welcher sich aus der Anbauschlacht der kriegsumzingelten Schweiz des Zweiten Weltkriegs herleitet. Sie alle gehen vom unterschwelligen Glauben aus, dass die Schweizer Landwirtschaft jederzeit natürlicher und selbstverständlich besser sei. Der geistige Gegenwartstrend der nationalmythologischen Rückbesinnung zeigt sich auch im Protektionismus der Agrarpolitik. «Swissness» hat eine unverkennbare Parallele zu Donald Trumps «America first».

Die Schlagworte «Ernährungssouveränität» und «Nahrungssicherheit» stammen von der marxistischen Linken des Weltsozialforums in Porto Alegre (Brasilien) und versinnbildlichen den legitimen Kampf der dortigen Landlosen­bewegung gegen die Grossgrundbesitzer. Doch Toni Brunner, Alfred Rösti und Markus Ritter haben wohl noch nie die kommunistischen ­Ursprünge ihrer Schlagworte ergründet.

In kaum einem Wirtschaftsbereich klaffen indes für die Konsumenten Mythos und Wirklichkeit stärker auseinander als im Agrarmarketing. Täglich sehen wir zwar in der Werbung idyllische Bauernhöfe mit fröhlich gackernden Freiland­hühnern, behornten Kühen und freundlich werbenden Berner Sennenhunden. In der Wirtschaftswirklichkeit ist aber die Produktionskette der Schweizer Landwirtschaft extrem auf die Vorleistungen aus dem Ausland ausgerichtet. 71 Prozent des Pouletfutters stammt derzeit aus dem Ausland. 55 Prozent der Futtermittel für Schweine und ebenso viel Kraftfutter für das Vieh wird importiert. Weit über 200 000 Hektaren Ackerland – etwa zwei Drittel so gross wie unsere Ackerfläche im Inland – werden für die importierten Kraftfutter aus Soja, Mais und Weizen im Ausland beansprucht. Soja kommt aus Brasiliens Ackerland, das kurz zuvor noch Regenwald war.

Die bürokratische Swissness-Gesetzgebung schreibt vor, 80 Prozent eines Agrarprodukts müsse aus der Schweiz stammen, bei gewissen Milchprodukten sogar 100 Prozent, wenn die Marke Schweiz drauf steht. Das ist Etikettenschwindel. Denn die Vorleistungen und Zulieferungen der hiesigen agroindustriellen Mengen­bolzerei stammen aus dem Ausland. Wir sind heute alles andere als «ernährungssouverän» und können es nie sein.

Wäre es nicht nachhaltiger, biologischer und konsumentenfreundlicher, vermehrt Weidefleisch in Bio-Qualität aus Brasilien oder Uruguay direkt zu importieren? Der Bundesrat hätte ja heute die Kompetenz zur Senkung der Importzölle.

Mit Ausnahme der rund 6000 zertifizierten Biohöfe und der Alpsömmerungsbetriebe wird in den hiesigen Talbetrieben ebenso mit der Chemiekeule umgegangen wie in der Agroindustrie in ganz Europa. In der Tierhaltung werden bei uns jährlich 50 000 Kilogramm Antibiotika gespritzt. Die Kosten der zunehmenden Antibiotika-Resistenzen trägt das Gesundheitswesen.

Im agro­industriellen Gemüsebau werden in Schweizer Treibhäusern viermal mehr Heizöl pro Kilo Wintersalat, Tomaten oder Peperoni verbrannt als in Südspanien, auch wenn der grössere Transportaufwand von dort her verrechnet wird. Und dazu holt diese Treibhausindustrie Tausende ungelernte Hilfsarbeiter als Erntehelfer aus Portugal und Polen herbei. Warum lässt man im Winter und im Frühling nicht vermehrt und zollgünstiger Gemüse aus Südeuropa zu, wo es ohne Beheizung der Treibhäuser kultiviert wird?

Verbindungen zum Parlament

Im derzeitigen Parlament haben 51 von 246 eidgenössischen Parlamentariern mindestens eine Interessenbindung zum Agrobusiness. Nur wenige von ihnen sind aktive Landwirte. Die Agrarlobby sorgt dafür, dass die Mittel für Fleischabsatzförderung, Exportbeihilfen, Überschussvermarktung und weiteres laufend erhöht werden, was die nötige Strukturanpassung verhindert.

Zurück zur Volksinitiative «für Ernährungs­sicherheit» des Bauernverbands: Die Verbandsspitze rechnete mit einer glatten Annahme ihrer Protektionismus-Initiative im Parlament. Doch eigene Leute durchkreuzten dieses Ziel. Der Berggebietsvertreter Isidor Baumann aus dem Kanton Uri rechnete in der Ständeratskommission unwiderlegbar vor, dass ausgerechnet die Bergbauern mit dieser Initiative schlechter fahren.

Das Parlament wird nun dieser Initiative einen gemässigten Gegenvorschlag entgegensetzen, um dem Bauernverband den Rückzug seiner Initiative zu ermöglichen. Mit diesem politischen Schattenboxen will man ihm die Schmach eines internen Streits ersparen.

Eine Marktöffnung im Nahrungsmittelmarkt wird kommen. Der gegenwärtige nationale Agrarmythos wird unter dem Druck der Preise und des Einkaufstourismus auch mal verbleichen. Deshalb suchen innovative Landwirtschaftsbetriebe heute schon den Ausweg in die marktorientierte Diver­sifikation und in Spezialitätennischen.

Es ist durchaus gerechtfertigt, dass Bund und Kantone beim Strukturwandel finanzielle Unterstützung leisten. Aber die Produktions­bolzerei von Fleisch und Milch mit dem teuren, täglichen Importfutter-Irrsinn, wie sie der Bauernverband anstrebt, hat keine Zukunft. Je länger man zuwartet, desto schmerzlicher wird die Anpassung sein. Das Nichtstun beschert nur weitere verlorene Jahre.

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