«Der Bildungsdünkel ist das Problem»

Tagesanzeiger vom Rudolf Strahm am 24.10.2011

«Die Schweiz hat ein Problem mit den Universitäten», schrieb der Historiker Philipp Sarasin. Rudolf Strahm widerspricht.

Der Geschichtsprofessor Philipp Sarasin hat viele verärgert mit seiner elitären und abschätzigen Beurteilung des schweizerischen Berufsbildungssystems. Ich bin einverstanden, wenn er sagt: «Die gymnasiale Bildung ist kein Luxus. Sie ist ein wichtiger Baustein im schweizerischen Bildungssystem.» Und noch mehr stimme ich seiner Kritik zu, dass fünf Milliarden Franken für die Bildung sinnvoller eingesetzt wären als fünf Milliarden für den «Altherrentraum von perfekten Kampfflugzeugen».

Zum ersten: Professor Sarasin will mehr Gymnasium statt Berufslehre. Er höhnt über ein Bildungssystem, das er nicht kennt. Neben den von ihm bedauerten bloss 15 Prozent männlichen Jugendlichen, die in der deutschen Schweiz eine gymnasiale Maturität absolvieren (was zweifellos tief ist), gibt es noch zusätzliche 11 Prozent eines Jahrgangs, die die Berufsmaturität in Verbindung mit einer Berufslehre ablegen. Diese erlaubt einen prüfungsfreien Zugang zu den Fachhochschulen der Tertiärstufe A.

Und was Sarasin nicht zu kennen scheint: Neben den 30 Prozent Jugendlichen eines Jahrgangs (Männer und Frauen), die eine Universität, die ETH oder eine Fachhochschule FH besuchen, absolvieren heute weitere 29 Prozent eine höheren Berufsbildung, das heisst eine Höhere Fachschule HF oder eine höhere eidgenössische Berufsprüfung oder Fachprüfung. Diese Bildungsgänge auf der Stufe Tertiär B vermitteln hohes spezifisches Fachwissen, neueste Technologien und liefern die mittleren Kader, die das Rückgrat der Wirtschaft bilden. Jeder dritte Lehrabgänger macht heute – oft später und berufsbegleitend – eine Weiterbildung der Stufe Tertiär B. Die Absolventen der höheren Berufsbildung (Tertiär B) und die Fachhochschulabsolventen (Tertiär A) werden heute im Arbeitsmarkt mehr begehrt als die meisten Uni-Absolventen (mit Ausnahme von Medizin und Ingenieurwissenschaften).

Zweitens: Mit seltener Abschätzigkeit beschreibt Sarasin «e Lehr», so bezeichnet er despektierlich die Berufslehre, als «bloss rudimentäre Bildung», als Ausfluss einer «Ideologie des bodenständigen Mittelmasses». Diese Aussage vom «Mittelmass» wurde gerade vor ein paar Tagen Lügen gestraft, als die Schweizer Jugendlichen an den Berufsbildungsweltmeisterschaften in London erneut den ersten Rang aller Europäer und am meisten Medaillen einbrachten. Tatsache ist: Die fünf Länder mit einer dualen Berufsbildung (das heisst betriebliche Lehre in Kombination mit einer staatlichen Berufsfachschule; in der Schweiz, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark) haben drei mal tiefere Jugendarbeitslosenquoten, verglichen mit jenen Industriestaaten, die keine Berufslehre und ausschliesslich vollschulische Bildungsgänge anbieten. Die Schweiz hat, im Jahreszyklus schwankend, eine Jugendarbeitslosenquote von 3 bis 5 Prozent. Finnland, das in dem von Sarasin herbeigezogenen Pisa-Rating stets den europäischen Spitzenplatz einräuumt, eine solche von derzeit 23 Prozent. Finnland hat keine Berufslehre. Die Länder mit den hohen Gymnasialquoten, offenbar Sarasins Vorbilder, legen alle sehr hohe Jugendarbeitslosenquoten von 20 Prozent und mehr an den Tag, so Frankreich, Spanien, England, Italien.

Sarasin spielt diese Frage herunter: «Der gerne vorgebrachte Hinweis auf die tiefe Jugendarbeitslosigkeit hilft nicht weiter.» Rückfrage: Ist denn eine tiefe Jugendarbeitslosigkeit, ist denn die Integration der Jungen in die Arbeitswelt nicht das entscheidende gesellschaftliche Plus eines Bildungsystems?

Drittens: Bildungspolitisch völlig auf dem Irreweg ist Sarasin mit seiner Behauptung, «die Förderung der gymnasialen Ausbildung würde zu einer starken Integration jener bildungsfernen und fremdsprachigen Jugendlichen in den akademischen Arbeitsmarkt führen». Er möchte «den negativen Einfluss eines bildungsfernen Familienhintergrunds durch eine höhere Anzahl von Schulstunden kompensieren». Soll man denn die schulisch Schwachen, oft schulmüden Jugendlichen mit Herkunft Balkan, Portugal oder Türkei, deren bildungsferne Eltern vor einer Generation von unserer Landwirtschaft, vom Gastgewerbe und vom Bau als Ungelernte rekrutiert worden sind, durchs Gymnasium pushen? Jeder Oberstufenlehrer schüttelt den Kopf. Einer von zehn schafft den sozialen Aufstieg über die Schulen. Aber die einmalige Stärke der Berufslehre und der Attestlehre liegt eben gerade darin, dass auch 80 Prozent der Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten, die oft eine hohe praktische Intelligenz mitbringen, dank der berufspraktischen Qualifizierung in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Dadurch gewinnen sie mehr Selbstvertrauen und können sogar beruflich aufsteigen. Genau diese Integration schaffen die vollschulischen und gymnasialen Ausbildungsgänge in den andern Ländern nicht!

Viertens: Die Schweiz bildet nicht zu wenig Akademiker aus. Sie hat klar zu wenig Mediziner, weil die Fehlkonstruktion des Numerus Clausus’ drei von vier studienwilligen MaturaabsolventenInnen vom Medizinstudium fernhält. Sie hat auch klar zu wenig Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschafter und Hochschulinformatiker, weil die sprachlastigen Maturitätsverordnungen jenen (meist männlichen) Jugendlichen, die notenmässig mit der Sprachorientierung nicht zurechtkommen, das Gymnasium verbauen. Die sprachlastige Gymnasialbildung wirkt selektiv. Dort sind die Hürden gegen die Naturwissenschaften eingebaut. Damit fallen die Vorwürfe Sarasins auf Gymnasium zurück.

Fünftens: Die Schweiz hat aber ein Problem mit den Universitäten, nämlich mit den überfüllten und überlasteten Geisteswissenschaften, in denen die Hörsäle erst noch mit 20 – 30 Prozent ausländischen Abiturienten zusätzlich bevölkert werden. Was geschieht mit den tausenden von Historikern, Ethnologen, Politologen, Medienwissenschaftlern, wenn es von jeder Richtung nur einige Dutzend Fachabsolventen pro Jahr braucht? Ich frage mich oft: Hat ein Professor, der in der Vorlesung hunderte von fleissig notierenden Studierenden vor sich sieht, je einen Gedanken darüber verschwendet, was seine Studierenden nach dem Studienabschluss beruflich tun? Gewiss hat die allgemeine humanistische Bildung ihren starken Eigenwert. Aber, wer kennt und nennt die heimlichen Nöte und Ängste der geisteswissenschaftlichen Studienabgänger, die hier ein Praktikum, dort ein Hilfskräfte-Stage zu ergattern suchen? Fragen Sie mal, wie viele beim Bund, bei den öffentlichen Verwaltungen und Grossfirmen auf den Wartelisten stehen!

Gewiss hat die Schweiz ein Problem mit der Kompatibilität und der ungerechten Titeläquivalenz ihres Bildungssystems gegenüber dem Ausland (mit dem ich mich seit langem befasse). Doch der «Konzeptfehler» liegt viel weniger in einer (angeblichen) «Bildungsverachtung» der Schweizer, wie Professor Sarasin dies nennt, sondern vielmehr im ungebrochen elitären Bildungsdünkel.

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