Das Klischee vom Stadt-Land-Graben ist zu simpel

Kolumne von Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger und Bund vom 10.8.2021

Die SVP hat ein neues zugkräftiges Thema. Bloss vier Sätze in der 1.-August-Rede von SVP-Präsident Marco Chiesa genügten, um das Thema zu setzen. Er wetterte über die «arroganten Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen» in den Städten, welche «verächtlich auf die Landbevölkerung herabschauen» und als «Schmarotzer» angeblich von ihr profitieren. Seither stürzen sich Journalisten, Kommentatoren und Leserbriefschreiber auf diese neue SVP-Provokation. Damit hat die SVP bereits erreicht, was sie wollte, nämlich das Klischee vom Stadt-Land-Graben in der Politik unausweichlich verankern.

Den Vorlauf zum Thema lieferte der Freiburger Ökonom Reiner Eichenberger in der «SonntagsZeitung» mit der unbelegten, freimütigen Behauptung, die Städter lebten auf Kosten der Landbevölkerung. Eichenberger ist ein kreativer Professor mit Hang zum Fantasieren. Meist kommen seine Ideen ohne jede Forschung daher. Auch seine neue Behauptung belegt er mit keiner Finanzkennziffer. Dabei gäbe es exakte Studien und Statistiken der Eidgenössischen Finanzverwaltung, des Bundesamts für Raumplanung und die Finanzziffern der Tripartiten Agglomerationskonferenz.

Hier in aller Kürze die Grössenordnungen der Fiskalströme: Im Rahmen des interkantonalen Finanzausgleichs werden 5,3 Milliarden Franken pro Jahr, mehrheitlich zugunsten der ärmeren Kantone, umverteilt (2018). Die Kantone erhalten für ihre soziodemografischen Sonderleistungen der Städte zugunsten der Ärmeren 334 Millionen und zudem 167 Millionen für die Sonderleistungen der Kernstädte. Die Randregionen erhalten umgekehrt einen Zusatzbetrag von 360 Millionen für ihre geografisch-topografischen Sonderleistungen. Aber ausserhalb des interkantonalen Finanzausgleichs zahlt der Bund insgesamt gegen 10 Milliarden Franken an die Landkantone für landwirtschaftliche Subventionen, Strukturverbesserungsmassnahmen, Strassen-, Wege- und Wasserbauprojekte, Waldbewirtschaftung, Tourismus- und Gastrofinanzierungen, Schlechtwetterentschädigungen, und zudem verordnet er Wasserzinsen zu ihren Gunsten.

Die SVP und Reiner Eichenberger, auf den sich SVP-Präsident Chiesa beruft, werden in der kommenden Debatte ihre sonderbare Behauptung der Benachteiligung der Landregionen nie und nimmer belegen können. Die Städte sind und bleiben klar die ökonomischen und fiskalischen Lokomotiven des Landes.

Das Klischee vom Stadt-Land-Graben ist allerdings schon zuvor durch simplizistische Abstimmungsanalysen aufgetischt worden. Es wurde mit sogenannt politgeografischen Ja-/Nein-Zuordnungen aus jüngeren Abstimmungsresultaten beim CO2-Gesetz, bei den Pestizid- und Trinkwasserinitiativen und beim Wolfsgesetz aufgewärmt.

Solche Abstimmungsgeografie hat allerdings die Agglomerationen und kleineren Städte ausser Acht gelassen. Diese umfassen nämlich mehr Bewohner als alle grossen Kernstädte zusammen. Die Agglo widerspiegelt aber ein sehr disparates und widersprüchliches Muster. Schon deren Vernachlässigung macht das Schema vom Stadt-Land-Graben unbrauchbar.

Hier ist die Gegenthese zur simplifizierenden Stadt-Land-Geografie: Eine wachsende Kluft gibt es nicht räumlich, sondern in den unterschiedlichen Identitäten aufgrund der gesellschaftlichen Erfahrungen und der sozialen Betroffenheit. Eine Tiefenbefragung von 300 Bürgern zu ihren verhaltensleitenden Motiven beim Abstimmen würde dazu mehr Erkenntnis bringen als 30’000 zufällige Ja-/Nein-Antworten aus der Internetpopulation!

Was prägt denn die Identität und Betroffenheit, die Marco Chiesa anspricht? Man kann sich über seine Polarisierung ärgern, aber man ignoriere das von ihm angesprochene subjektive Empfinden nicht!

Da wirkt sich zum Beispiel die Stellung in der Arbeitswelt aus: In der Berufspraxis der gewerblich-industriellen Wirtschaft zählt immer das Erreichte – aber bei den «Intellektuellen», so das Empfinden, reicht das Erzählte.

Da prägt zum Beispiel die kulturelle Selbstorganisation in den Dörfern mit der belebenden Erfahrung der Freiwilligenkultur in den ländlichen Vereinen. Dies prägt auch einen anderen Sinn für Eigenverantwortung und Miteinander.

Da zählt zum Beispiel bei Umweltmassnahmen das ländliche Angewiesensein auf das Auto. Aber ebenso prägt in der Agglomeration der Benzinpreiszuschlag bei den weniger Betuchten die Meinungsbildung.

Da irritiert zum Beispiel die bedenkenfreie Aufnahme von Migrationspersonen in den Grossstädten mit dem Schutz von bundesrechtlich abgewiesenen Asylpersonen ohne Aufenthaltsrecht. Die Bevölkerung auf dem Land und in der Agglo ist nicht einfach fremdenfeindlich, wie man ihr unterstellt. Aber sie pflegt ausgeprägter die Grundhaltung, dass man auch von Asylpersonen eine Eigenleistung und die Respektierung der rechtsstaatlichen Aufenthaltsrechte erwartet.

Ich denke, den Stadt-Land-Graben zu bewirtschaften, ist zu simpel und führt in die Irre. Das Städte-Bashing mit einem SVP-Bashing zu kontern, wie es aus Pressekommentaren und Leserbriefen hervorgeht, ist keine weise Reaktion. Sie führt zu Selbsttäuschung. Darüber sollten wir nachdenken.