Brexit: Was geschieht, wenn die Panik vorbei ist?

Artikel im Tages-Anzeiger – Montag, 27. Juni 2016

Dass Börsen und Finanzmärkte auf den Brexit-Entscheid panisch überreagieren und Politiker konsterniert überventilieren werden, war vorauszusehen. Zu viel Druck und Erwartungen sind im Vorfeld des britischen Volksentscheids aufgebaut worden. Finanzmärkte operieren in kurzfristiger Optik, deshalb neigen sie zum Überschiessen und zu Extremreaktionen.

Vieles, was derzeit über die Zukunft geweissagt wird, ist reines Kaffeesatzlesen. Niemand weiss heute, wie es weitergeht und welche Szenarien realistisch sind. Auch die zuvor hochgerechneten und politisch hochgespielten Kosten eines EU-Austritts sind noch nie durchexerziert worden. Was man heute sicher sagen kann: Grossbritannien wird nicht aus seinen Wirtschaftsbeziehungen hinauskatapultiert. Wer solchen Alarmismus betreibt, ist politisch unredlich oder inkompetent. Politiker und Journalisten sollten jetzt wieder vermehrt die regulatorischen «Fundamentals» der heutigen Weltwirtschaft studieren. Die sind nämlich multilateral auch ohne EU-Binnenmarkt wirksam und viel stärker auf den freien globalen Güterverkehr ausgerichtet als etwa in den 1990er-Jahren. Diese globalen Spielregeln verstecken sich hinter Kürzeln wie WTO, Gats, TRIPS, FSB, OECD und weiteren multilateralen Abkommen. Über 90 Prozent des europäischen Wirtschaftsverkehrs ist durch diese Abkommen konsolidiert. Sie gelten auch ohne die Regeln des EU-Binnenmarkts. Und was für Grossbritannien gilt, trifft auch für die Schweiz zu. Man muss dieses zur Selbstverständlichkeit gewordene Regelsystem der Weltwirtschaft jetzt zur Situationsanalyse in Erinnerung rufen, um die Folgen eines Austritts Grossbritanniens aus der EU abzuschätzen. Diese Konsequenzen wären in etwa auch für einen schweizerischen Alleingang gültig.

Da sind erstens die Handelsregeln der Welthandelsorganisation (WTO). Sie garantieren den freien Handel Grossbritanniens – und der Schweiz. Über 95 Prozent unseres Handelsverkehrs ist WTO-konsolidiert. Das heisst, dass beim Austritt aus dem EU-Binnenmarkt kein Land die Zölle erhöhen oder nicht tarifarische Handelsschranken errichten könnte.

Da sind zweitens die Regeln des multilateralen Dienstleistungsabkommens Gats im Rahmen der WTO, die den freien Zugang zum Beispiel zu den Versicherungs-, Telecom-, Verkehrsund weitgehend auch den Finanzmärkten sicherstellen. Dieser Verkehr ist beim Wegfallen der Dienstleistungsfreiheit des EU-Binnenmarkts nicht gefährdet. Die Schweiz hatte auf Druck der hiesigen Banken nie ein Dienstleistungsabkommen mit der EU abgeschlossen; ihr Dienstleistungsverkehr mit den EU-Staaten funktioniert schon heute nur mit den Gats-Regeln.

Da ist drittens das multilaterale Abkommen über die Anerkennung des geistigen Eigentums TRIPS, das die Rechte an Patenten und Marken sowie alle Urheberrechte abdeckt und keine Abschottung der Kulturmärkte zulässt.

Da sind viertens die umfangreichen Regeln des Financial Stability Board (FSB) und des Basler Ausschusses, welche die Bankensicherheit auf einem Minimalstandard von Eigenmitteln zwingend vorschreibt. Auch sie haben nichts mit der EU-Mitgliedschaft zu tun. Da sind im Weiteren die neuen Regeln der Steuererfassung, die von der OECD (mittels schwarzer Listen) durchgesetzt werden, wie etwa der Automatische Informationsaustausch von Steuerdaten (AIA), die faire Konzernbesteuerung (Beps), die Geldwäscherei- Überwachung Fatca und viele, viele mehr. Dank dieser multilateralen Regeln bleibt Grossbritannien auch nach dem EU-Austritt im Weltmarkt. Es wird aber keine Personenfreizügigkeit mehr gewähren. Diese war matchentscheidend bei der Brexit-Abstimmung. Sofern die EU nicht neue Konzessionen macht, wird das Land wahrscheinlich in Zukunft ein selektives Greencard-Zuwanderungssystem anwenden, wie es englischsprachige Länder wie die USA, Kanada und Australien bereits lange mit Erfolg praktizieren.

Wahrscheinlich wird die verbleibende britische Industrie mit etwas mehr Kosten für die Zertifizierung und europaweite Konsolidierung von Normen rechnen müssen. Das wäre beim Wegfall der Bilateralen auch in der Schweiz der Fall. Ein grosser Teil der britischen Industrie ist aber längst abgewandert – nicht wegen der EU, sondern wegen des schlechten Bildungssystems und der fehlenden Berufsbildung im Land.

Doch gewiss wird es für Grossbritannien kostspielige, ja schmerzhafte Anpassungen geben, vor allem auf dem Finanzplatz London. Möglicherweise wird der Zugang von Londoner Banken zum europäischen Privatvermögensmarkt wegen des Verzichts auf EU-Kundenschutzvorschriften (Mifid-II) eingeschränkt werden, sofern nicht ein neues Abkommen zustande kommt. Möglicherweise werden gewisse Finanzanwaltskanzleien und Beratungsfirmen ihre Aktivitäten nach Frankfurt und Zürich verlegen. Möglicherweise wird aber die Londoner City im Gegenzug ihre aggressive, bisher von der EU behinderte Vermarktung von derivativen Finanzmarktinstrumenten und Hedgefonds erst recht verstärken – und dabei von der EU noch mehr kritisiert werden. Solche Entwicklungen sind völlig offen, daher kommt auch die grösste Panik aus der City.

Vieles wird jetzt davon abhängen, wie die EU-Behörden gegenüber Grossbritannien reagieren werden. Sind sie überhaupt noch für ein neues Arrangement handlungsfähig? Die EU ist mit der Osterweiterung eine andere geworden. Sie ist historisch gewiss ein Friedensprojekt. Aber sie ist heute auch eine Zwangsgemeinschaft zunehmend egoistischer Nationalstaaten zur Verteidigung von Konzern- und Bankinteressen. Die osteuropäischen EU-Mitgliedsländer der Visegard-Gruppe haben im Vorfeld der Brexit-Abstimmung jede vernünftige Konzession gegenüber Grossbritannien dogmatisch abgeblockt. Das werden sie wohl auch gegenüber der Schweiz tun.

Es ist allerdings auch vorstellbar, dass die EU mittelfristig ihr Dogma der absoluten Personenfreizügigkeit korrigiert. Der Brexit wäre eine Chance dazu. Denn gut zwei Drittel aller EUBürger lehnen die EU wegen der Zuwanderungsfrage ab. Auf die Dauer wird die EU in der heutigen Form nicht Bestand haben, wenn sie ihr Migrationsregime nicht pragmatischer regelt. Für die Schweiz fallen nun mehrere, zuvor angedachte Handlungsoptionen zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative weg: Ein Gesetz dazu zu erlassen, ist jetzt sinnlos. Bis zum Februar 2017 reicht die Zeit für ein Arrangement mit Brüssel ohnehin nicht mehr. Eine neue Verfassungsänderung hat noch weniger Chancen als zuvor. Aus heutiger Sicht bleibt nur der Weg, der in der Bundesverfassung vorgegeben ist: Der Bundesrat muss mit einer Verordnung den Artikel 121a zur Personenfreizügigkeit im volkswirtschaftlichen Interesse vorläufig pragmatisch selber umsetzen. Wenn er klug handelt, konsultiert er davor das Parlament respektive die Kommissionen.

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass der bereits lange erprobte Inländervorrang – nicht eine starre Kontingentierung mittels Schutzklauseln – für den Arbeitnehmerschutz und die Wirtschaft das Beste wäre. Nach dem Einschwenken von FDP und SVP auf diese pragmatische Linie besteht nun auch eine Chance dazu. Selbstverständlich muss der Bundesrat Brüssel weiterhin konsultieren. Und er muss vor allem bei unseren Nachbarn um Verständnis werben. Aber eine Zustimmung aus Brüssel ist momentan schlicht ausgeschlossen! Brüssel kann innert der für uns nützlichen Frist von seinem Dogma nicht abweichen. Alles andere ist Wunschdenken.

 

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