Akademiker statt Fachkräfte – wollen wir das wirklich?

Kolume im Tages-Anzeiger – Dienstag, 4. Dezember 2012
«Ich hätte lieber etwas weniger, dafür bessere Maturanden», das hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann unlängst in einem bildungspolitischen Interview erklärt – und die akademische Szene damit aufgebracht. Der Wirtschafts- und Bildungsminister führte aus: «In Ländern mit hoher Maturitätsquote ist auch die Arbeitslosigkeit höher.» Und: «Ich sehe eine gewisse Tendenz dazu in der Westschweiz, wo wir eine höhere Maturitätsquote und gleichzeitig höhere Arbeitslosigkeit haben als in der Deutschschweiz.»

Diese Befunde passen nicht allen. Aber sie sind statistisch erhärtet und in der Deutschschweiz kaum bestritten. Mehr als tausend befürwortende Zuschriften sind bei Bundesrat Schneider-Ammann eingegangen. Doch von einigen Professoren und in der welschen Presse wurde er für seine Äusserungen schwer gescholten. Der Historiker Philipp Sarasin (Universität Zürich), einer der Sachwalter des akademischen Bildungsdünkels, karikierte Schneider-Ammans Einsatz für die Berufslehre und praxisnähere Bildung umgehend als ländliche «Bodenständigkeitsideologie». Und der Soziologe Daniel Oesch von der Uni Lausanne führte den ausländischen Akademikerzuzug als Hauptargument für höhere Maturitätsquoten ins Feld – eine recht gewagte Verbindung.

Schneider-Ammanns Äusserungen waren missverständlich, keine Frage. Er wollte nicht auf eine Senkung der Maturandenzahlen hinwirken, sondern auf die in Fachkreisen längst bekannten Verzerrungen im Bildungswesen aufmerksam machen. Die Schweiz hat einen Fachkräftemangel; die massive Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit hat ihn sichtbar gemacht. Aber man muss differenzieren: Wir haben nicht generell einen Akademikermangel!

  • Wir haben erstens einen Ärztemangel. Der ist hausgemacht durch den Numerus clausus, der den Zugang zum Medizinstudium beschränkt. Für das Studienjahr 2012 haben sich in der deutschen Schweiz 3120 Mittelschulabsolventen angemeldet, doch es stehen nur 630 Studienplätze zur Verfügung. Nur jeder Fünfte erhielt einen Studienplatz. Kommt hinzu, dass die medizinischen Fakultäten unter dem Siegel der Hochschulautonomie viel mehr Spezialärzte als Allgemeinpraktiker ausbilden.
  • Wir haben zweitens zu wenig Ingenieure, Informatiker und Techniker. Der Mangel an Mint-Fachleuten (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist ebenfalls hausgemacht und zurückzuführen auf die Sprachlastigkeit der Gymnasien, insbesondere die starke Sprachengewichtung beim Zugang zu den Mittelschulen: Wenn Jugendliche mit mathematisch- naturwissenschaftlicher Begabung nicht auch gute Noten in den Sprachfächern erzielen, werden sie durch den Notenmix wegselektioniert. Würde man diesen leicht verschieben, ergäbe dies eine andere, arbeitsmarktnähere Zusammensetzung der Studierenden.
  • Wir haben drittens einen Mangel an diplomiertem Pflegepersonal. Auch dieser ist hausgemacht: Beim Übergang von der Krankenpflegeausbildung der Kantone und des Schweizerischen Roten Kreuzes zum eidgenössischen Modell sind ein Jahrzehnt lang (1995 bis 2005) viel zu wenig Fachangestellte in Pflege und Betreuung (Fage und Fabe) ausgebildet worden.
  • Wir haben viertens sektoriell zu wenig Fachkräfte, zum Beispiel gelernte Informatiker, weil die junge ITC-Branche die Ausbildung von Informatiklehrlingen viele Jahre für überflüssig hielt und entsprechende Nachqualifizierungs- Offensiven, die der Nationalrat wollte, 2003 vom welschen Bundesrat Pascal Couchepin abgewürgt wurden. Solche Unterlassungssünden und Fehlsteuerungen im Bildungswesen wirken sich erst viel später aus.

Das Schlagwort vom Fachkräftemangel muss stets herhalten, um die Personenfreizügigkeit zu rechtfertigen und eine Erhöhung der gymnasialen Maturitäten zu fordern. Mit anderen Worten: Die Personenfreizügigkeit deckt die Mängel im Bildungsbereich endlich auf – und auch gleich wieder zu, weil die fehlenden Berufsleute einfach im Ausland rekrutiert werden.

Dabei wird oft ignoriert, dass unser Berufsbildungssystem viele höhere Bildungsgänge anbietet nach dem Motto: kein Abschluss ohne Anschluss. Die Berufsmaturität erlaubt den prüfungsfreien Zugang zu den Fachhochschulen. Davon machen heute erfreulicherweise 13 Prozent der Jugendlichen Gebrauch. Mehr als ein Drittel der Berufsleute, die eine Berufslehre ohne Maturität absolvieren, wählen jedoch den Weg der höheren Berufsbildung. Jährlich werden 28 000 Diplome in höheren Fachschulen oder mit einer Berufsprüfung oder einer höheren eidgenössischen Fachprüfung erworben. Zum Vergleich: Die Zahl der Universitätsabschlüsse auf allen Stufen liegt bei 29 000 – nur wenig höher.

Die Techniker, Controller, Wirtschaftsprüfer, technischen Kaufleute und Meister, die als mittlere Kader das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden und die rasche Diffusion neuer Technologien und Prozesse sicherstellen, gehen aus der höheren Berufsbildung hervor. Sie haben indes einen Wettbewerbsnachteil: Ein akademischer Titel fehlt ihnen, obschon sie in ihrem Spezialgebiet wirklich Spitze sind. Parlamentarier aller Parteien fordern vom Bundesrat jetzt eine Gleichstellung bezüglich Titel mit dem «Professional Bachelor» und dem «Professional Master». An den Universitäten hingegen zeigt sich eine Entwicklung am Arbeitsmarkt vorbei: Obschon es bloss einige Dutzend neue Fachhistoriker jährlich braucht, gab es letztes Jahr 4282 Studierende mit Hauptfach Geschichte oder Kunstgeschichte. Und es gab 7847 Studierende in Psychologie, 4520 in Politologie, 2654 in Kommunikationswissenschaften und 1184 in Ethnologie.

Insgesamt 44 000 Studierenden in Geistes- und Sozialwissenschaften standen 22 000 in exakten und naturwissenschaftlichen Richtungen gegenüber. Da spielt eine gewisse Tragik mit: Mitte Jahr waren 2337 arbeitslose Doktoranden bei Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) gemeldet (bei 3500 Doktordiplomen pro Jahr). Bereits ist die Rede von «Doktor Arbeitslos» und von einer «Generation P», wobei «P» für Praktikum steht.

Zur Korrektur der Akademisierungsfalle braucht es dringend eine gewisse Steuerung im Bildungsbereich. Sie wird nicht allen passen.

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