Zwiespältiger Personenverkehr

Tages-Anzeiger – Dienstag, 10. Dezember 2013

Wir stehen vor einer weiteren Abstimmungsschlacht. Es geht um die Volksinitiative gegen die Masseneinwanderung vom Februar 2014. Das Pro- und das Kontra-Lager werden im Abstimmungskampf wohl je 8 bis 10 Millionen einsetzen. Und beide Lager werden mit ihren Argumenten schwarzmalen und die Bürgerinnen und Bürger unter Druck setzen.

Das Blocher-Lager der Initiativbefürworter instrumentalisiert unterschwellige Ängste vor Überfremdung und Souveränitätsverlust. Die gegnerische Arbeitgeberseite droht mit Verlust von Wohlstand und Auflösung der bilateralen Verträge. Seit langem ist ein Gutachterkrieg zur Personenfreizügigkeit im Gange nach dem Motto: jedem Interesse sein Professor!

Wir Bürger und Bürgerinnen stehen vor dieser Millionenschlacht vor einem schwierigen Entscheiddilemma. Wir möchten doch ein gutes Einvernehmen mit der EU; und gleichzeitig sehen wir mit Beklemmung, dass seit der vollständigen Öffnung der Personenfreizügigkeit 2007 Jahr für Jahr eine Zuwanderung von der Grösse der Stadt St. Gallen oder Winterthur vor sich geht. Ein Ende ist nicht absehbar.

Das Seco, das konsequent die Interessen der Arbeitgeber vertritt, hatte die Auswirkungen für den Arbeitsmarkt stets falsch vorausgesagt. Im Bundesbüchlein, das der Bundesrat zur Abstimmung über die Bilateralen I im Jahr 2000 in alle Haushalte verschickte, hiess es: «Wie die Erfahrungen in der EU zeigen, sind die Ängste, die Einwanderung aus EU-Staaten in die Schweiz werde zunehmen, nicht begründet.» Doch in Wirklichkeit haben wir jährlich 130 000 bis 140 000 Personen Neuzuwanderung (brutto). Nach Abzug der Rückkehrer, Einbürgerungen und Todesfälle bleibt eine Nettozuwanderung von 80 000.

Vor der zweiten Abstimmung über die Bilateralen II im Jahr 2005 behauptete der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein erneut: «Vor ‹Arbeitslosentourismus› ist die Schweiz geschützt. Der freie Personenverkehr gilt nicht für Arbeitslose.» Auch das ist überholt. Letztes Jahr wanderten 4000 arbeitslose EU-Bürger, hauptsächlich aus Portugal, zur Stellensuche in die Schweiz, wo sie faktisch bleiben können.

Später behauptete das Seco, die Personenfreizügigkeit würde nur hoch Qualifizierte in die Schweiz bringen. Doch rund ein Drittel der EU-Zuwanderer sind Unqualifizierte aus bildungsfernen Schichten Süd- und Osteuropas. Sie werden zum Beispiel von der Landwirtschaft, der Gastronomie und der Hauswirtschaft (zur Privatpflege) rekrutiert. Es sind ausgerechnet die strukturschwachen, SVP-nahen Branchen, welche am meisten Unqualifizierte ins Land holen. Das Einwanderungsmuster der früheren Jahrzehnte wiederholt sich teilweise. Die hoch Qualifizierten kommen und kehren zurück; aber die Ungelernten kommen und bleiben. Als einer, der sich seit Jahren für Berufsbildung, Nachholbildung und Integration engagiert, wundere ich mich über dieses Nicht-wahrhaben-Wollen von Folgelasten für die Schulen, die Ausbildung und das Sozialsystem.

Diese Wanderbewegungen aus armen in reiche Regionen innerhalb Europas entsprechen indes der Logik des europäischen Binnenmarkts. Die Personenfreizügigkeit ist ein neoliberales Konzept im Rahmen der vier «Freiheiten» des Binnenmarkts: Waren, Dienstleistungen, Kapital, aber auch Arbeitskräfte sollen innerhalb des Binnenmarktes ohne Behinderung hin- und hergeschoben werden. Der geistige Vater dieses Liberalisierungskonzepts ist Friedrich A. von Hayek, wie der Buchautor Wolfgang Streeck in seinem Buch «Gekaufte Zeit», das in Deutschland Aufsehen erregt, historisch nachweist.

Hayek wollte staatliche Grenzen einebnen und die völlig liberalisierte Mobilität für den «Produktionsfaktor Arbeit», um den Sozialstaat zu schleifen. Für ihn war der Sozialstaat etwas vom Teufel, der «Weg zur Knechtschaft». Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Europas Linke mit ihrem Multikulti-Ideal die soziale Sprengkraft dieses Arbeitsmigrationsmodells lange Zeit verkannt hatte und erst jetzt die Augen auftut.

Auf die Dauer ist in Europa eine volle Personenfreizügigkeit ohne gesetzliche Mindestlöhne in den Hochlohnländern ökonomisch schlicht undenkbar. Das sehen selbst die Bürgerlichen in Deutschland ein. Denn die Billigarbeiter werden nicht auf dem hiesigen Arbeitsmarkt, sondern in Portugal, Ungarn, Polen und bald auch in Rumänien, Bulgarien und Kroatien rekrutiert.

Mit einem flächendeckenden Mindestlohn liesse sich die Tiefstlohn- Einwanderung steuern. Unsere bisherigen flankierenden Lohnschutzmassnahmen waren nur in den Unia-Branchen mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV) wirksam. Doch die GAV-Branchen erfassen nur 45 Prozent aller Arbeitnehmenden. Gerade die Migrations-Grauzonen Landwirtschaft, Kebab-Gastronomie, Hauswirtschaft sind nicht GAV-geschützt.

Der Bundesrat will keinen gesetzlichen Mindestlohn, faktisch heisst dies: weitere unbegrenzte Tiefstlohn-Zuwanderung. Er will kein griffiges Wohnbauprogramm und keinen zusätzlichen Preisschutz für Wohnungen in den Städten. Er will keine obligatorische Spracherwerbspflicht für Migranten aus der EU, die hier bleiben. Er will keine Pflichten der Arbeitgeber, sich an der Nachholbildung zu beteiligen. Und er lässt weiterhin die Benachteiligung schweizerischer Berufsleute im Bildungsbereich zu. Seine vor Monatsfrist beschlossene «Fachkräfte- Offensive» ist ein langfädiges Geschwurbel ohne neue Massnahmen.

Wenn man die Entscheidverantwortlichen im Bundeshaus nach ihrer langfristigen Strategie bezüglich der Zuwanderung – sagen wir: mit Perspektive 2025 – persönlich befragt, ist die Antwort: Schulterzucken. Sie haben keine. Sie denken kurzfristig und vertrauen auf die Economiesuisse- Millionen, um die vier nächsten Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit über die Runden zu bringen.

Der Bundesrat bräuchte Druck vonseiten des Volkes, damit er weitere flankierende Massnahmen realisiert und eine langfristige Einwanderungspolitik formuliert. Nach dem EWRNein damals war die Bereitschaft dazu auch bei Bürgerlichen vorhanden, jetzt nicht mehr. Die SP droht zwar mit einem späteren Nein zur Personenfreizügigkeit für Kroatien, doch das glaubt ihr niemand.

Soll man als Bürger das dringend nötige Druckmittel auf die Regierung einsetzen und contre coeur trotz Ablehnung der SVP-Politik im Februar die Initiative gegen Masseneinwanderung aus taktischen Gründen annehmen? Oder soll man mit einem Nein den Arbeitgebern einmal mehr die freie Rekrutierung aus dem Ausland überlassen? Unser Bürger-Dilemma ist gross. Ich habe darauf zurzeit keine befriedigende Antwort.

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