Griechische Tragödie und helvetische Pflicht

Kolumen im Tages-Anzeiger – Dienstag, 19. Juni 2012

Finanzmärkte, Politiker und Banker blickten gebannt nach Griechenland. Nun können die Europäer kurz aufatmen. Doch mit dem knappen Wahlsieg für den Euro wird das griechische Volk nicht vom (Spar-)Leiden befreit. Und es wird auch keine stabile, breit abgestützte Regierung erhalten, sondern eine mit den alten Repräsentanten der korrupten politischen Elite.

Ich habe es vor Ort selber erfahren: Noch wenige Tage, ja nur Stunden vor dem Wahlgang vom Sonntag wussten viele Griechen noch nicht, wen oder was sie wählen sollten. In ihrem Dilemma entschieden sie sich aufgrund ihrer Hauptsorge: Wer ist für mich das kleinere Risiko?

Alle Medienberichterstatter beschreiben meist den Zustand im Grossraum Athen, wo vierzig Prozent der Landesbevölkerung leben. Dort lässt sich beobachten und filmen, wie unter dem Spardiktat ein Staat, eine Gesellschaft zerfällt.

Auf den Inseln spürt man das nicht. Dort sind zwar alle kreuz und quer verschuldet, innerhalb der Familien und Clans, unter Nachbarn, beim Lebensmittelhändler und Stromlieferanten, bei der Gemeinde mit der Steuer- und Wasserrechnung. Doch man arrangiert sich. Man produziert wieder mehr eigenes Gemüse im Garten, hält Kleintiere. Die Sommereinnahmen von den Touristen fliessen am Staat vorbei direkt zu den Zimmervermieterinnen und Beizen. Deshalb ist man auf den Inseln politisch weniger aufgewühlt. Die politische Elite hält man ohnehin für korrupt und Athen für einen Saugnapf.

Bei diesen Szenen der griechischen Tragödie lehnen wir Schweizer uns vornehm zurück. Wir fühlen uns nicht betroffen, bestenfalls interessiert. Wir sind ausserhalb der Eurozone. Die schweizerischen Banken hatten den Griechen kaum Eurokredite gewährt. Wir zahlen nicht mit. Indirekt tragen wir über den Internationalen Währungsfonds (IWF) etwas bei mit – bisher verlustfreien – Stabilisierungsgarantien für Südeuropa.

Doch diese traditionelle helvetische Abstinenz und Neutralität versteckt eine Kehrseite der griechischen Schuldentragödie: die Kapitalflucht vonseiten der Elite. Kaum jemand thematisiert hierzulande die Schweiz-Connection der griechischen Schuldenkrise. In Athen, Strassburg und Brüssel jedoch ist das ein Thema. Im Staatssekretariat für Internationale Finanzfragen (SIF) in Bern hat man nach Rückfrage noch nicht einmal an eine Datenerhebung über griechische Vermögen in der Schweiz gedacht. Es gebe keine Rechtsgrundlage für eine Vollerhebung. Man müsste schon die Bankiervereinigung bitten, ob sie gefälligst eine Umfrage mit freiwilliger Erhebung durchführe.

Unser Staat erhebt die Zahl aller Schafe, Ziegenböcke, Rinder, stets mit Rechtsgrundlage. Aber die Milliarden Fluchtvermögen darf er nicht einmal in anonymisierter, aggregierter Form abfragen, geschweige denn blockieren – oder nur mit verfassungsmässigem Notrecht wie im Krieg.

Die Zahlen, die die Schweizerische Nationalbank (SNB) über ausländische Bankeinlagen veröffentlicht, sind nicht vollständig. Sie kann nur fragen, was bei den Banken auf den Konten liegt, aber nicht, was in den Depots und Banksafes gehortet wird. Und auch nicht, was über Briefkastenfirmen und Vermögensverwalter zufliesst. Immerhin zeigt sich auch so ein massiver Anstieg: Die griechischen Privatvermögen auf Schweizer Banken stiegen vergangenes Jahr um 1500 Millionen auf 4310 Millionen Franken.

Hinzu kommen 3700 Millionen Franken an Kundenverpflichtungen wie etwa die Konten griechischer Reeder oder Hotelbesitzer. Diese Zahlen datieren von Ende 2011 und sind schon veraltet. Denn heuer gab es enorme Abflüsse von Privatvermögen aus Griechenland, im Mai 2012 allein 5 Milliarden Euro, jetzt im Juni noch mehr. Die Schweiz ist nicht das einzige Destinationsland für Fluchtvermögen, aber sicher das wichtigste ausserhalb der Eurozone.

Die Kapitalfluchthilfe der Schweizer Banken ist nicht neutral. Sie hilft der griechischen Oberschicht beim Prellen ihres Staates. Diese Elite ist ein Kernproblem der griechischen Tragödie. Sie ist unfähig und hat den Staat geplündert. Ärzte, Rechtsanwälte, Staatsbeamte, Privatlehrer, Gewerkschafter haben die kleinen Leute ausgenommen, Politiker haben sie belogen und betrogen. Nichts lief ohne Fakelaki, ohne Couvertchen mit Geldscheinen unter dem Tisch durch.

Laut dem neu eingesetzten obersten Steuerfahnder kennt der griechische Staat derzeit 45 Milliarden Euro Steuerrückstände. Eine Aufarbeitung der Steuermisere wird blockiert. Von 5000 Anträgen bei Banken auf amtliche Konteneinsicht, was in Griechenland rechtmässig ist, sind nur 214 beantwortet worden. Bei 500 Anträgen, die griechische Politiker betreffen, wartet die Steuerbehörde seit sechs Monaten auf Akteneinsicht.

Die Schweiz will nun mit Griechenland ein Abgeltungssteuerabkommen, eines nach dem Muster der Abkommen mit Deutschland, England, Österreich. Damit will sie die Zahl jener Euroländer erweitern, die das schweizerische Bankgeheimnis weiter respektieren. Als Gegenleistung bietet die Schweiz eine rückwirkende Amnestiesteuer (Regularisierungsabgabe) für bisher zugeflossene Fluchtgelder an. Die verarmte griechische Regierung muss sie wohl annehmen. Die bisherigen Verhandlungen sind allerdings wegen des Athener Führungsvakuums unterbrochen.

Vorausschauend auf das, was wiederum passieren könnte, nenne ich den springenden Punkt: Die Schweizer Unterhändler vom SIF dürfen für die rückwirkende Regularisierung nicht wieder eine Abschleichfrist für die Steuerflüchtlinge einräumen, wie sie sie gegenüber Deutschland ertrotzt hatten. Das würde bedeuten, dass die griechischen Steuerflüchtlinge ihre Vermögen vor dem Stichdatum verschieben könnten, ohne dann etwas zu zahlen. Sie würden nicht nur den allfälligen Aufwertungsgewinn einheimsen, sondern auch den griechischen Staat erneut schädigen. Im Falle des verarmten, hoch verschuldeten Griechenland wäre das eine moralische Schandtat.

Die politische Verantwortung für die Verhandlungen mit Griechenland trägt in dieser Sache Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Sie darf sich nicht leisten, das verarmte Hellas mit schweizerischer Steuerfluchthilfe für dessen Oberschicht zu schädigen. In dieser Frage werden wir von ganz Europa beobachtet. Wir stehen in der griechischen Kapitalfluchtfrage moralisch und politisch in der Pflicht.  
Griechische Tragödie und helvetisch Pflicht. Steuerflucht aus Griechenland. (Kolumne TA und Bund vom 19. 6.2012.)

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